Rezensionen

Esther Kinsky: Heim.Statt

abb.: https://www.suhrkamp.de/buch/esther-kinsky-heim-statt-t-9783518432297

Esther Kinsky stellt ihrer Lyrik das Zitat „I know the names of almost nothing“ von John Burnside voran, womit sie ein Defizit zum Ausdruck bringt und nicht die Chance, die in dieser Tatsache liegt. Diesem folgt ein weiteres, das die Befindlichkeit zum Ausdruck bringt, nicht vergessen und sich nie ganz erinnern zu können, ehe sie zu ihrer Vorrede ansetzt. In dieser wird von ihrer Begegnung mit einem Tierchen in ihrer Kindheit erzählt, deren Berührung sie „wie Ansätze eines noch nicht Wirklichkeit gewordenen Körperteils“ beschreibt.
Damit beginne ich, mit Neugierde ihre ersten Gedichte zu lesen.

Die Autorin führt die Leser:innen in ihre Welt der Wahrnehmung, die ebenso exakt wie ungenau, nicht zu fassen und doch konkret ist. Es gelingt ihr, Stimmungen und Atmosphären herzustellen, die nachvollziehbar sind und vieles offen lassen. Genau diese Balance macht ihren Stil aus: „. … / die augen sich / erblindet sehn / und ausgebrannt / vom licht“.

Esther Kinsky, 1956 in Engelskirchen geboren, ist sowohl als Schriftstellerin wie auch Übersetzerin (Polnisch, Russisch und Englisch) tätig. Für ihre Lyrik, Essays, Prosa und Kinderbücher wurde sie mit Preisen ausgezeichnet, 2020 mit dem Deutschen Preis für Nature Writing.

Heim.Statt ist ein Zyklus der sieben Langgedichte umfasst, verbunden von kurzen Zwischentexten. Verletzungen, Gewalt, Flucht, Aufbruch und Verlust sind wiederkehrende Themen in Mythen und dem Leben. Themen, die ein Trauma verursachen und auch Hoffnung bewirken können. Alles, und so auch Esther Kinskys Lyrik, kann und soll auch politisch verstanden werden.

Heim.Statt als Titel ist wunderbar passend, denn er zeigt das komplexe und differenzierte Spektrum der Autorin, die offen gegenüber der Welt ist.
„… unterm himmel wir waren ja kinder / noch und nicht an die leere gewöhnt / die an uns vorbeizog und dann / rief einer: haus“

Kinsky variiert die Optik ihrer Lyrik, vermischt Deutsch mit Englisch, wirft Gedanken und Bilder einer inneren Logik bedingt, aneinander und ermöglicht so, dass Leser:innen in Resonanz schwingen können. Ihr letzter Satz lautet: „Sie halten den Duft für einen Hauch vom Paradies.“

Für alle, die sich mit Unkonventionellem auseinander und zusammensetzen wollen, ist dieser Band sehr zu empfehlen, somit auch für an gegenwärtiger Lyrik interessierte Deutsch-Lehrende und Schüler:innen der Oberstufe.

Mai 2025
Rezension
Ilse M. Seifried, MA
https://www.i-m-seifried.at

Gedichte, 155 Seiten
Suhrkamp 2025, ISBN 978-3-518-43229-7
€ 26,50